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GELIEBTE SCHÖNHEIT,

12. Juni


unsere gemeinsamen Stunden sind gezählt. Der Abschied naht. Auch wenn er nur für kurze Zeit ist. Doch was ist schon Zeit? Lang kommt sie mir vor, zähle ich all die schönen Dinge auf, die wir gemeinsam erlebt haben, die Du mir gezeigt hast. Und zugleich waren die beiden Monate nur ein Augenblick, ein Wimpernschlag, wenn ich bedenke, wie viel es noch zu entdecken gibt.


Fremd warst Du mir, es ist noch gar nicht lange her. Ich hatte weder Vorurteile, noch wirklich etwas Schlechtes über Dich gehört, „fremd“ eher im Sinne von „egal“. Du hattest nicht stattgefunden in meinem Leben. Ich hatte keinen Platz für Dich gehabt.


Doch das hat Dich glücklicherweise unbeeindruckt gelassen, und Du bist trotzdem auf mich zugekommen. Hast einen verlassenen Trampelpfad zu meinem Herzen gefunden, hast ihn verbreitert, geteert und zu einer Straße ausgebaut. Inzwischen ist sie zu einer Autobahn herangewachsen, sechsspurig und mit fließendem Verkehr in beide Richtungen.


Anfangs war mir nur von Dir erzählt worden. Mir wurden Bilder gezeigt von Deiner Schönheit, Deiner anderen Kultur, Deiner Fremdartigkeit. Das alles hatte mich wahnsinnig neugierig gemacht. Wie bist Du wirklich? Wie wird das erste Zusammentreffen sein? Werden wir uns auf Anhieb verstehen? Und werden wir uns während der geplanten zwei Monate vertragen? Hältst Du es mit mir aus und ich mit Dir?


Und dann das erste Aufeinandertreffen. Eine Explosion. Mit offenen Armen kamst Du mir entgegengerannt. Hast ein Feuerwerk entzündet, all Deine Türen geöffnet, mir ein riesiges Zirkusfestival geschenkt, mir Deinen Jahrmarkt präsentiert, mich direkt in Deine Mitte katapultiert und mich mit all meinen Sinnen verführt. Wie beeindruckt ich war und noch immer bin! Bangkok, dein pulsierendes Herz. Voller Energie. So voller Leben. Lebenslust. Das Treiben auf den Straßen, die nie zu ruhen scheinen. All diese Gerüche, die über mich kamen und meine Sinne verrücktspielen ließen. Die tausend Köstlichkeiten, von denen ich naschen und an denen ich mich sattessen durfte. Tag für Tag. Und immer wieder neu. Ein wahrer Rausch, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn wenn Du mich süchtig nach Dir gemacht hast, dann dort, tief in Deinem Herzen.


Und kurz vor der Ohnmacht hast du mich gebettet. Im Park oder auf Deiner Blutbahn, dem Wasser. Hast mich behutsam umsorgt, mir frische Luft zugefächelt, Deine Musik heruntergedreht und mich auftanken lassen. Meine Neugier dann wieder herausgekitzelt und mir Kraft gegeben für ein neues Erlebnis mit Dir. Was für ein Einstand!


Dann hast Du mir Deine anderen Seiten gezeigt. Fern der Großstadt hobst Du mich in Deine Höhen und zeigtest mir Deine wahre Größe. Deine Weiten. Ließest mich in Deinen Tälern hausen und mich mit Deinen Menschen Freundschaft schließen. Fegtest Worte wie „Land des Lächelns“ mit einer einzigen Handbewegung fort und fülltest die leere Zeile mit „gastfreundlich“. Willkommen war ich, wohin ich auch kam. Du gabst mir nie das Gefühl, irgendwo fehl am Platz zu sein. Hast mich immer selbst entscheiden lassen, mir nichts aufgedrängt. Ein Arm deiner Umarmung blieb jederzeit geöffnet, und ich hätte mich umdrehen und einfach fortgehen können. Deiner Freundlichkeit hätte es keinen Abbruch getan. Wie auch immer Du es machst, behalte es bitte bei. Und bringe es auch mir bei. Lass mich von Dir lernen: Deine Gelassenheit, Deine Zufriedenheit und Deine Art, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Ich möchte Dir ein treuer Schüler sein. Reiche mir nur einen Strohhalm, und ich werde so lange an ihm saugen, bis das Glas geleert ist.


Deine Kochkünste hast Du mir ja schon beigebracht. Und ich hoffe, ich habe Dir oft genug zugesehen, um Dir nachzueifern. Denn mit Deiner Küche hast Du mich verzaubert. Du hast mich gelehrt, was in Deutschland niemandem gelungen ist: kleine Portionen zu essen. Dafür ständig, über den ganzen Tag verteilt. Und immer frisch. Frisch gepflückt, gesammelt, gefangen und zubereitet. Schnell zubereitet. Und einfach. So wahnsinnig einfach, und doch mit so viel Geschmack. Ich möchte baden in Deinem Curry, in Deiner Kokossuppe. Ich habe fast vergessen, wie Milch und Käse schmecken. Ich habe keinen Appetit mehr auf Steak, Pizza oder auf die Unmengen an Eis, die ich vor unserem Treffen verschlungen habe. Auch hier hast Du mich verzaubert. Und ich danke Dir von ganzem Herzen dafür.


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*Um unsere Arbeit und diese Seite zu finanzieren, stellen wir hier jedes Kapitel auszugsweise für euch kostenfrei zur Verfügung.


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